Stromausfall-Szenario (Tag 1): Was Deutschland bei einem tagelangen landesweiten Blackout erwartet

Tag 1 - Das Ereignis

Es ist Montag, der 21. Dezember des Jahres X - Wintersonnenwende. Derjenige Tag des Jahres, an dem es am frühesten dunkel wird. Wir befinden uns in Deutschland. Das Weihnachtsfest steht kurz bevor, alle stecken in den letzten Vorbereitungen. Grelle Energiesparlampen erleuchten die Räume der Büros, Fabriken und Privathäuser an diesem grauen Wintertag. Die Sonne steht am frühen Nachmittag schon sehr tief; alsbald verschwindet sie ganz hinter dem Horizont und mit ihr das restliche Tageslicht. Die meisten Menschen sind an ihrer Arbeitsstätte - der Feierabend naht. Kinder und Jugendliche befinden sich in der Schule, der Ganztagsbetreuung, beim wöchentlichen Training des Sportvereins oder bei Freunden. Zack - auf einmal ist es dunkel. Die Innenbeleuchtung in Büros, Wohnungen, Geschäften und öffentlichen Einrichtungen erlischt, ebenso wie die Stras­senlaternen. Kaffeemaschinen, Drucker, klingelnde Telefone, Fernsehgeräte, Radios, Musikanlagen in Einkaufspassagen - all das gibt von jetzt auf gleich keinen Ton mehr von sich. Nach wenigen Sekunden gewöhnen sich die Augen an die Lichtverhältnisse. Ratlosigkeit und ein ungewohntes Gefühl mangels äusserer Eindrücke machen sich bei den Menschen breit. Handy-Taschenlampen werden angeschaltet und erleuchten die Aufenthaltsorte der Leute mit kaltem, schwachem Licht. «Geht bestimmt gleich weiter», heisst es vielerorts. Dort, wo Notstromaggregate die Versorgung in Sekundenbruchteilen übernahmen, also bspw. in Krankenhäusern, einigen industriellen Produktionsstätten und wichtigen öffentlichen Einrichtungen, haben die Menschen noch gar nichts bemerkt. Zumeist lösen Autoscheinwerfer mit jeder Minute mehr das Restlicht der Sonne als nunmehr einzige grosse Lichtquelle ab. Mittlerweile sind schon einige Minuten vergangen, es ist immer noch alles «tot». Langsam wird die Unruhe grösser und Anspannung liegt in der Luft: Alle ausgehenden Anrufversuche bleiben erfolglos und selbst am anderen Ende Deutschlands wohnende Verwandte und Freunde sind über keinen der üblichen Kommunikationskanäle erreichbar, was zu ersten Gerüchten über das Ausmass des Stromausfalls führt. Nach etwa 25 Minuten entscheiden sich die ersten Mitarbeiter zahlreicher Firmen und Läden mehr oder minder freiwillig dazu, Feierabend zu machen und verlassen die Büroräume in Richtung ihrer Autos - wozu noch dableiben, wo sowieso nichts mehr geht und der Arbeitstag fast vorüber ist. Aus Mangel an Optionen und Argumenten geben dann auch die Vorgesetzten nach und teilen das «offizielle Go» mit, sodass die Menschen vielerorts ihren Arbeitsplatz verlassen dürfen. Familienväter versuchen telefonisch Frau und Kinder zu erreichen, und andersherum - erfolglos. Langsam verwandelt sich die anfängliche Abenteuerstimmung bei vielen in ernste Besorgnis, ist doch die Möglichkeit der Kommunikation mit den Liebsten sonst immer gegeben und selbstverständlich. Vieles lernt man erst zu schätzen, wenn es nicht mehr da ist.

Verkehrschaos

Die meisten Menschen, die mit Autos den Heimweg antreten, haben noch genügend Sprit im Tank. Andere fahren Tankstellen an. Diese sind jedoch ebenso dunkel wie die Umgebung, da sie generell keine Notstromaggregate besitzen, weshalb hupende Autos die Bereiche um die Zapfsäulen verstopfen. Auf den Strassen sieht es keinen Deut besser aus, da aufgrund des erzwungenen mehr oder minder synchronen Feierabends die Autos zehntausender Menschen zeitgleich auf die Strassen drängen, was in urbanen Gebieten zu einem absoluten Verkehrschaos führt. Dazu gesellen sich noch all diejenigen, welche freizeitlich, z.B. für Weihnachtsbesorgungen, in die Städte gefahren sind. Die ausgefallenen Ampeln tun ihr übriges in Verbindung mit den zunehmend gestressten und besorgten Menschen. Einige Radfahrer, die sich durch enge Nischen quetschen, rauben den Autofahrern den letzten Nerv. Dort, wo sich nicht gerade ein Polizist bemüht, den Verkehr zu regeln, ist also hohe Eigenverantwortung gefragt, der bei weitem nicht alle gewachsen sind: Die ersten Unfälle geschehen, was zu einer zusätzlichen Verschlimmerung der Verkehrslage führt. Diejenigen, die vergessen haben, ihre Elektroautos ausreichend zu laden, sind gar nicht erst losgekommen oder mittlerweile im Verkehr liegengeblieben.
Die eisigen Aussentemperaturen verschlechtern die Aussichten für die Batterien der von bisher stolzen Besitzern kutschierten E-Autos und beschwören ein Dilemma zwischen der Zielerreichung und dem Frieren im eigenen Auto herauf. Die Vorweihnachtszeit sorgt sowieso schon für Trubel auf den Parkplätzen und Verkaufsflächen der Supermärkte und Geschäfte, doch der Ausfall von Beleuchtung, Kühlung der Lebensmittel, Kassensystemen und automatischen Türen treibt die Hektik auf die Spitze. Lautstarke Beschwerden mischen sich mit den Beschwichtigungsbemühungen der grösstenteils selbst ratlosen und gestressten Verkäufer. Dass viele Menschen ihre alltägliche Lebensmittelversorgung mehr oder weniger «just in time» - also ohne angelegte Vorräte - organisieren, befeuert nach nun über einer Stunde ohne Strom die subtil-aggressive Grundstimmung.

Öffentliche Verkehrsmittel

All diejenigen, welche nicht mit dem Auto unterwegs sind oder keines besitzen, sind auf die öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen. Die Busse stecken in der gleichen Misere wie alle übrigen PKWs und LKWs; ebenso die Strassenbahnen. S- und U-Bahnen sowie die Züge des Nah- und Fernverkehrs umgehen die Staus auf den Stras­sen normalerweise entspannt, doch nun transportieren auch sie niemanden mehr: Aufgrund massgeblicher Störungen sämtlichen Betriebes durch funktionsunfähige Weichen, tote Kommunikationskanäle und liegengebliebene stromabhängige Schienenfahrzeuge sammeln sich die Menschenmassen an den Bahnhöfen. Viele fragen sich ernsthaft, wie lange sie noch in der Kälte ausharren müssen ob der Ausweglosigkeit nach Hause zu kommen. Freie Taxen stehen schon längst nicht mehr zur Verfügung, da sie entweder mit oder ohne Fahrgäste im stockenden bis stehenden Verkehr feststecken. Nach mittlerweile über zwei Stunden ohne Strom und ohne Aussicht auf Besserung entscheiden sich zahlreiche Menschen, den Heimweg zu Fuss anzutreten, sofern das Zuhause im Umkreis weniger Kilometer liegt. Kälte, Dunkelheit und die zunehmend bedrohlich wirkende Kulisse auf den Strassen sorgen dabei für erschwerte Bedingungen.

In den eigenen vier Wänden

Viele ereilt der Stromausfall natürlich auch zu Hause. Diejenigen, die gerade kochen, sehen sich gezwungen, die Speisen sofort in dem bis dahin erreichten Zustand - falls geniessbar, zu verzehren oder die Zubereitung zu unterbrechen und halb gare Lebensmittel wenig später wegzuwerfen. Ebenso ist zu bedenken, dass Kühlschrank und Gefriertruhe ausfallen, wobei die Kühlwirkung glücklicherweise noch einige Zeit anhält, wenn man die Türen nicht gerade andauernd öffnet. Hierfür bietet die kalte Jahreszeit jedoch trotz aller Nachteile die Möglichkeit, Speisen draussen zu kühlen, sofern ein Garten oder Balkon, mindestens aber eine Fensterbank zur Verfügung steht. Dringender wird für die meisten sicherlich die Suche nach der Taschenlampe und - wenn in funktionsunfähigem Zustand gefunden - das Auftreiben geeigneter und voller Batterien sein. Eltern müssen ihre Kinder beruhigen, die gerade mitten im Online-Fussballspiel an der Konsole unterbrochen wurden - trotz Drei-Tore-Führung. Spätestens wenn sich dann bald das Handy wegen mangelnder Akku-Ladung ausschaltet, dürfte die Stimmung kippen. Nach kürzester Zeit realisieren viele wahrscheinlich zum ersten Mal, dass auch die Toilette sich ohne Strom nicht mehr spülen lässt, und beginnen dann, wertvolles Trinkwasser aus Flaschen nachzuschütten.
führt zum Ausfall der Heizungen, denn ohne Strom kein Zündfunken, keine Steuerung und auch keine Umwälzpumpe, die das erwärmte Wärmeträgermedium (meist Wasser) zu den Heizkörpern befördert. Einige möchten ihren ewig nicht mehr benutzten Kamin anfeuern, merken dann jedoch, dass das ohne Feuerholz wohl kaum möglich sein wird. All diejenigen, die auf die Heizung angewiesen sind, dürfen ab nun die Restwärme in der Wohnung oder dem Eigenheim geniessen und fangen nach einigen Stunden allmählich an zu frieren. Ein paar angezündete Deko-Kerzen machen dabei, wenn überhaupt, einen nur bescheidenen wärmetechnischen Unterschied. Eine Stunde lang mag das Ganze die meisten eventuell noch amüsieren und für junge Familien durchaus auch aufregend sein, für Minimalismus-Liebhaber oder «Klimaschutz»-Anhänger vielleicht auch zwei oder drei. Doch spätestens ab dann dürfte auch der Letzte beginnen, die Vorzüge von auf Abruf verfügbarem Strom und der damit einhergehenden Versorgung mit Wärme, Wasser, gekochter Nahrung, Kommunikation, Mobilität und Unterhaltung zu vermissen.

Auf dem Dorf

Diejenigen, welche in ländlichen Gegenden, gar mit eigenem Haus und Garten und einem Waldstück in der Nähe, wohnen, dürften den Stromausfall bis hierhin tendenziell gelassener wahrgenommen haben. Alleine das Mehr an Wohnraum dürfte psychisch beruhigend wirken, und auch die Tatsache, dass nicht tausende Menschen in unmittelbarer Nachbarschaft, ja gar im selben Haus wohnen, entspannt die Situation. Zudem haben viele aus Platzgründen nicht auf das Einlagern von Lebensmitteln und Wasserflaschen verzichten müssen, und auch Holz für den Kamin im Wohnzimmer steht zur Verfügung - notfalls wird es eben im Umkreis eigenständig geschlagen. Doch daran denkt nach wenigen Stunden ohne Strom wohl bisher kaum jemand.
Falls ein Gasgrill im Garten steht, lässt sich sogar eine warme Mahlzeit für die Familie zubereiten. In der Nachbarschaft kennt man sich mehr oder weniger gut, sodass die Hilfsbereitschaft (noch) vorhanden ist. Erste Mutmassungen über die Ursache und Tragweite des Vorfalles werden ausgetauscht, ebenso wie die ein oder andere Konservendose, Wasserflasche, Gaskartusche oder warme Decke. Zudem teilt man sich mit, was man im batteriebetriebenen Radio gehört hat: Es soll wohl einen Vorfall in einem Umspannwerk in einem anderen Teil Deutschlands gegeben haben. Das Problem habe zwar vorübergehend überregionale Auswirkungen, doch es wird zugleich versichert, dass die Netz- und Kraftwerksbetreiber mit Hochdruck an einer Wiederherstellung der Versorgung aller betroffenen Bürger arbeiteten und es sich nur noch um wenige Stunden der Dunkelheit handeln würde. Im Verlaufe des späten Abends, spätestens jedoch bis morgen früh, sei der Strom wieder da.

Eine ungemütliche Nacht

Diese frohe Botschaft macht den Leuten Hoffnung. Es werden nun Vorkehrungen für die Nacht getroffen. Alle zur Verfügung stehenden Decken werden hervorgeholt und sich in einem Zimmer versammelt, um das Beste (sprich: Wärmste) aus der Situation zu machen. Die Innentemperatur deutscher Haushalte nimmt schliesslich von Stunde zu Stunde ab. Die Heizungen werden von einigen provisorisch schon einmal voll aufgedreht, sodass sie sofort wieder zu heizen beginnen, sobald der Strom im Verlaufe der Nacht wieder da ist. Zudem gilt es am nächsten Morgen wieder zur Arbeit zu fahren. Diejenigen mit ausreichend geladenem Handy oder einem batteriebetriebenen, altmodischen Wecker neben dem Bett schätzen sich glücklich, die anderen hoffen darauf, von alleine rechtzeitig aufzuwachen. Immer wieder sind in dieser Nacht ungewöhnliche Geräusche zu hören, die Rettungsdienste sind praktisch im Dauereinsatz und generell scheint der Tag-Nacht-Rhythmus unterbrochen zu sein. Besonders in den grösseren Innenstädten herrscht hektisches Treiben, doch viele sind sich nicht so recht im Klaren darüber, was im Hintergrund alles geschieht. Die Polizei sorgt hauptsächlich dafür, dass die Bürger in den Wohnungen bleiben, um mögliche Eskalationen auf den Strassen zu verhindern. Generell ist für viele kaum an schlafen zu denken in dieser Nacht - nicht zuletzt aufgrund der zunehmenden Kälte, der Besorgnis um vermisste, nicht erreichbare Familienangehörige und Freunde und den damit einhergehenden körperlichen und psychischen Belastungen.
Aus dem Artikel «Szenario: Was Deutschland bei einem tagelangen landesweiten Blackout erwartet» aus der Ausgabe 47: Energie(w)ende

Fortsetzungen des Szenarios werden hier zu finden sein: Blog