Israel: Wichtigster Verbündeter des Westens?

Israel wird oft als wichtigster Verbündeter vorgehalten. Doch was zeichnet Israel als Verbündeten aus und gibt es Gründe, Israels Rolle als Bündnispartner zu hinterfragen?

Unser Erdball umfasst ca. 200 Nationalstaaten - einer davon ist Israel. Um die 3000 Kilometer trennen Israels Hauptstadt Tel Aviv von Berlin und sogar mehr als 9000 Kilometer liegen zwischen Tel Aviv und Wa­shington. Trotz seiner überschaubaren Grösse beschäftigt und polarisiert der kleine Wüstenstaat im Nahen Osten die Welt wie kein anderer. Israel hat in den Köpfen der Weltbevölkerung, insbesondere der westlichen, zweifellos einen Sonderstatus inne. Das «Gelobte Land» gilt geopolitisch als so etwas wie ein westlicher Aussenposten im «barbarischen» Raum der Araber und als «einzige Demokratie», die dort bestehe und die Ideen des Abendlandes teile. Es sei umzingelt von Feinden unserer Werte und Kultur und verdiene deshalb jegliche Unterstützung aus Europa und den USA. Möchte man den Versuch wagen, die Entwicklung, Politik oder Absichten Israels kritisch zu betrachten, verhält es sich nicht wie bei jedem anderen Staat. Sei es Nordkorea, China, die Türkei, Russland, die USA, der Iran, Kuwait, Ungarn oder Libyen - Staaten fundiert zu kritisieren, ist an sich nie ein Grund für Empörung. Im Falle Israels ist dies jedoch kaum möglich, ohne auf Eierschalen zu balancieren oder Gefahr zu laufen, gesellschaftlich abgestempelt zu werden. Die für ein Individuum wohl verheerendste Stigmatisierung ist, als «Antisemit» gebrandmarkt zu werden. Wer öffentlichkeitswirksam für eine Äusserung mit diesem Kainsmal versehen wird, kann seine Karriere im Mainstream als mehr oder weniger beendet betrachten. So wird die Beantwortung der folgenden Frage nicht gerade leichter gemacht: Stimmt es überhaupt, dass Israel demokratisch und rechtsstaatlich nach Idealen der «Freien Welt» funktioniert; dass dort Probleme und Konflikte auf der Grundlage westlicher Wertevorstellungen gelöst werden?

 

Was ist Zionismus? 

 Um den kollektiven Kontrollmechanismus des «Antisemitismus»-Labels zu verstärken, scheint die Bestrebung vorangetrieben zu werden, Antizionismus mit Antisemitismus gleichzusetzen. Schon Antizionismus ist aber nicht leicht von schlichter Kritik am politischen Kurs des Staates Israel abzugrenzen und das könnte als Einfallstor für staatliche Repressionen dienen. Diese Kritik wäre, wie gesagt, bei jedem anderen Staat unabhängig von ihrer Qualität zulässig, solange man nicht in ihm lebt (siehe China, Iran, Nordkorea oder inzwischen leider auch Deutschland). Ein Pendant zum Zionismus wäre der Maoismus aus China; eine übergeordnete Ideologie, die die Langzeitrichtung des Staates unabhängig von tagespolitischen Einzelheiten festlegt. Nun stellt sich die Frage, wie Zionismus und somit auch Antizionismus definiert werden sollen. So halten viele «Zionisten» seit Ende des 19. Jahrhunderts bis in die Gegenwart lediglich an der Idee fest, Juden benötigten einen eigenen Staat, der ihnen Schutz biete. Diese nach wie vor bestehende Art des Zionismus legte keinen Wert darauf, ob die jüdische Nation in Uganda, Madagaskar, der ägyptischen Steppe oder dem südamerikanischen Dschungel entstehen würde, solange sie die Bedingung einer stabilen wie auch zukunftsträchtigen Heimstätte des «Auserwählten Volks» erfüllen würde. In Kontrast zu diesen moderaten Anhängern des «Zionismus» stehen diejenigen «Zionisten», die meinen, zum klassischen Zionismus gehöre inhärent die Absicht, die biblischen Grenzen des «einstigen Heimatlandes» der Juden herzustellen, welches laut der «Heiligen Schrift» dort angeblich vor mehr als 2000 Jahren bestand. Damit sind nicht die heutigen Grenzen Israels gemeint, sondern ein Gebiet, das vom Nil bis weit in den Irak, den Libanon, nach Jordanien und auch Syrien hineinragt. Allein die Tatsache, dass Palästina - und nicht ein Teil Afrikas oder ähnliches - als Heimstätte des jüdischen Volks bereits mit der Balfour-Deklaration vom 02. November 1917 ausgemachte Sache war, deutet an, welche Art des Zionismus in der realen Politik wirklich tonangebend ist. Dieser Arm des Zionismus begründet sich religiös, stuft die biblische Prophetie als realpolitische Angelegenheit ein und will sie im Hier und Jetzt verwirklicht sehen. Kritiker meinen, die führenden Köpfe des Zionismus hätten dieses biblische Ziel stets verfolgt und die weltlichen Anhänger des Zionismus - schlicht von einer Fläche Land für sich und Ihresgleichen träumend - in ihre Pläne eingespannt und sie instrumentalisiert. So schrieb schon Moses Hess, der eigentliche Begründer des Zionismus, in seinem Werk «Rom und Jerusalem» 1862 vom jüdischen Volk, das «von allen Enden der Welt aus den Blick stets nach Jerusalem gerichtet hat». (1)

Slippery Slope 

 Zionismus ist also nicht gleich Zionismus, und, wie die vorliegende Doppelausgabe aufzeigen wird, verdichten sich die Anzeichen, welche Art des Zionismus die aktuelle israelische Führung vertritt und was sie nicht kritisiert bzw. in Frage gestellt sehen will, ergo was sie als «Antizionismus» definiert. Es könnte auf eine Entwicklung hinauslaufen, in der derjenige, der die Siedlungspolitik Israels kritisiert, nicht als «Menschenrechtler» oder Kritiker einer politischen Vorgehensweise interpretiert wird, sondern auch als «Antizionist». Falls Antizionismus wiederum mit Antisemitismus gleichgesetzt wird, so ist auch jemand, der der Zerstörung palästinensischer Häuser mit Bull­dozern kritisch bis ablehnend gegenübersteht, ein Antisemit. Erst kürzlich verabschiedete das US-Repräsentantenhaus eine «nicht bindende» Resolution, wonach genau diese Gleichsetzung von Antizionismus und Antisemitismus ab sofort Gültigkeit besitzen soll. (2) Hier liegt die Krux, denn welche Art des «Antizionismus» genau antisemitisch sein soll, wurde dabei recht unklar definiert. Ist es nun die Ablehnung des Zionismus, der die biblischen Grenzen wieder herstellen will oder des Zionismus, der nur irgendein Heimatland für das jüdische Volk fordert? Der Ausdruck «Anti­zionismus» könnte somit einem «Slippery Slope» gleichkommen, wonach künftig jegliche Kritik am Staat Israel als antisemitisch gebrandmarkt würde. Im Englischen spricht man von einem «Slippery Slope» (rutschigen Abhang), wenn ein Argument schon den Weg für das nächste ebnet: Hat man erst einmal etabliert, dass Zionismus die religiöse Wiederherstellung des «Heiligen Landes» darstellt und dass das heutige Israel diese vorantreibt, dann kann Kritik an dieser Vorgehensweise als «antizionistisch» gebrandmarkt und im nächsten Schritt direkt dem Stempel «Antisemitismus» zugeführt werden.

«Israeli Collusion»? 

 Dass Deutschland und die USA sich in Siebenmeilenstiefeln auf solcherlei wortklauberische Einschränkungen der freien Meinung zubewegen, verdeutlicht die allerhöchste Priorität, die Israels Wünsche seit Jahrzehnten im Westen geniessen. Über Israel, einen fremden Staat am anderen Ende der Welt, lässt man im politischen Mainstream nicht den Hauch einer Diskussion zu, sondern verteidigt ihn mit Zähnen und Klauen. Ist das nicht erstaunlich? Um es bildhafter zu untermalen: Zwei völlig entgegengesetzte Parteien eines Staates, die sich sonst in nichts einig sind, finden bei der Bewertung eines völlig anderen Landes totales Einverständnis, dass diesem ihre vollumfängliche Unterstützung gebührt. Wäre es nicht merkwürdig, wenn beispielsweise eine Para­guay-Lobby es schaffte, sämtliche Politiker aus allen Lagern einer anderen Nation ausgerechnet in der Feststellung zu vereinen, Paraguay stehe absoluter Rückhalt und volle Unterstützung zu? Auch bei vielen weiteren Angelegenheiten sorgt das Gedankenexperiment, sich einen x-beliebigen anderen Staat in Israels Rolle vorzustellen, dafür, dass einem die aussergewöhnlich-kuriose Bedeutung klar wird, welche Israel in der Weltöffentlichkeit inne hat. Israel wird besonders - jedoch nicht ausschliesslich - in den USA als wich­tig(s)ter Verbündeter angesehen. In dem Verständnis politisch links stehender Kritiker gilt das Land als eine Kolonie der USA, die (zu Unrecht) amerikanische Interessen im Nahen Osten durchzusetzen bemüht ist. Das Machtverhältnis wiegt in diesem Narrativ zugunsten der USA, während Israel selbst nur als weitgehend ferngesteuerter Aussenposten amerikanischer Interessen agiere. Im Kern ist diese Sichtweise typisch für Linke: Anti-Amerikanismus und Anti-Kapitalismus. Was wäre allerdings, wenn der Schwanz umgangssprachlich mit dem Hund wedeln würde? Es ist nämlich sogar im heutigen Politklima der USA durchaus sagbar, dass fremde Mächte versuchen, auf die amerikanische Politik Einfluss zu nehmen. Man erinnere dabei an die «Russian Collusion», die hinter dem Aufstieg Donald Trumps vermutet wurde (ob zurecht oder nicht). Die lange allgegenwärtig gewesene Behauptung, Russland habe Amerikas Wahlkampf fremdgesteuert, impliziert auch die Möglichkeit, dass eine kleinere Macht eine grössere in ungesundem Ausmass beeinflussen kann. Russlands Bruttoinlandsprodukt lag 2021 bei ca. 1,8 Billionen, das der USA bei ca. 23 Billionen Dollar. Die Bevölkerung der USA ist zudem doppelt so gross. Russland ist Amerika also an der Oberfläche meilenweit unterlegen. Den Staat Israel auf gleiche Weise hinter vermeintlichen amerikanischen Interessen zu suchen, wird im aktuellen Meinungsklima jedoch schnell als anti-israelisch = antizionistisch = antisemitisch diffamiert - bisher allerdings noch (!) nicht strafrechtlich verfolgt.

USA: Hauptziel der Kritik 

 Führt man sich die Option einer Fremdbeeinflussung durch das «Gelobte Land» vor Augen, könnte man einmal der Frage nachgehen, ob es nicht Zeit für einen Perspektivenwechsel wird: Gerade die Israel gegenüber besonders loyal eingestellten USA sind oft das Hauptziel politischer Kritik. «Amerika-Bashing» zu betreiben, gehört schon seit Jahrzehnten (Vietnam-Krieg, Nahost-Einsätze uvm.) zum guten Ton. Die Vereinigten Staaten gelten gemeinhin als heuchlerischer Weltpolizist, der unter dem Vorwand, demokratische Werte in der Welt zu installieren, seine egozentrischen Machtbestrebungen vorantreibt. US-Kriege werden im öffentlichen Bewusstsein wahlweise wegen der «kapitalistischen Gier nach bzw. Abhängigkeit von Öl» oder der «Profitgier des militärisch-industriellen Komplexes» geführt. Nun sind aber gerade Fälle wie die «nicht bindende» Resolution bezüglich Antizionismus Indikatoren dafür, wessen Interessen in der amerikanischen Politik eine gehörige Rolle spielen. Das «American Israel Public Affairs Committee» (AIPAC) beispielsweise ist eine der mächtigsten und einflussreichsten Lobby-Gruppen in den USA. Sie vereint auf ihren Veranstaltungen die wichtigsten Politiker des Kongresses - von Republikanern und Demokraten, denen man abseits dieser Veranstaltung eine tiefgreifende Feindschaft nachsagt. Die amerikanische Kriegsführung wird durchaus zurecht kritisiert und verurteilt, doch ein Blick auf den ersten Teil der vorliegenden Doppelausgabe mag Zweifel aufkommen lassen, ob allein Profit- und Machtinteressen im Inland hinter den geopolitischen Zerwürfnissen der USA stecken.

Einleitungsartikel von Tilman Knechtel für die Ausgabe 58: Israel - Freund und Alliierter? (Teil 1/2)

Quellen: 
1. de.wikipedia.org, Zionismus, abgerufen am: 11.12.2023 
2. tachles.ch, Antisemitismus und Antizionismus, 06.12.2023

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