Stromausfall-Szenario (Tag 2 & 3): Der Abstieg in die Barbarei beginnt

Tag 2 - Der Abstieg in die Barbarei beginnt

Am nächsten Morgen ist die Ernüchterung gross über die Erkenntnis, dass die Stromversorgung immer noch nicht wiederhergestellt ist. Mittlerweile verspüren immer mehr Menschen den Drang, in den eigenen vier Wänden eine Winterjacke anzuziehen. Die Innentemperaturen sind nicht unvorstellbar niedrig, doch die ausbleibende Möglichkeit, sich einmal richtig aufzuwärmen, macht vor allem den Jüngsten und Ältesten zu schaffen. Die wenigsten haben einen Notfallplan für solche Ereignisse, von daher irren die meisten verzweifelt umher - entweder zu Fuss oder mit dem Auto. Kühlschränke haben mittlerweile fast Zimmertemperatur und die Tiefkühler beginnen abzutauen. Die Notdurft wird langsam zum Problem, da einige so wenig Trinkwasservorräte haben, dass sie es sich nicht leisten können, damit zu spülen. Dort, wo Schnee liegt, kann man diesen mit Eimern in die Wohnung holen, schmelzen lassen und damit spülen. Eigenheimbesitzer können auf ihren Garten zurückgreifen und dort provisorische Löcher buddeln. Für Stadtbewohner kommt nur der öffentliche Park in Frage. Noch traut sich kaum jemand, diesen Schritt zu gehen - es wird mit grösster Mühe zurückgehalten. Doch immer häufiger sieht man Leute beschämt ihre Notdurft in Tüten aus der Wohnung transportieren. Eimer werden vereinzelt in die Abflüsse am Strassenrand entleert. Allmählich fühlt man sich in Teilen an mittelalterliche Zustände erinnert (zumindest so, wie sie im Geschichtsunterricht dargestellt werden) und auch der Geruch reiht sich dort zeitweise ein.

Die Situation spitzt sich zu

Der Magen vieler Menschen beginnt zu knurren aufgrund der mangelnden Kochmöglichkeit. Die meisten haben noch etwas trockenes Toastbrot, Aufschnitt, Müsli und Milch zu Hause, dazu einige rohe Snacks und Süssigkeiten. Es zeigt sich schon nach nicht einmal 24 Stunden, wie wenig vorbereitet die Menschen auf ein solches Ereignis gewesen sind: Häufig stehen Trinkwasserreserven nicht ausreichend zur Verfügung - diejenigen, die sonst nur auf Leitungswasser zurückgreifen, müssen sich jetzt mit dem begnügen, was zufälligerweise noch vorrätig war. Eine klassische Vorratskammer haben die wenigsten eingerichtet. Und erst recht ist kaum ein Mensch mit der ausreichend strapazierfähigen Psyche ausgestattet, eine Situation auszuhalten, in der man nicht alles sofort bekommt, wie man es sich wünscht. Es machen sich zunehmend gereizte Stimmung und aggressive Verhaltensweisen breit, die man am ehesten als eine Art Abhängigkeit von einer bestimmten Lebensweise und Gewohnheiten beschreiben könnte, weshalb häusliche Gewalt zunimmt und vor allem Kinder unter den Umständen leiden.
Diejenigen, die noch versucht haben, zur Arbeit zu kommen, stehen vor verschlossenen Türen und realisieren sogleich die Unsinnigkeit ihres Auftauchens. Somit verstehen immer mehr Menschen, dass es sich um eine aussergewöhnliche und offenbar ziemlich ernste Situation handelt. Dass ohne Stromversorgung praktisch kaum eine Arbeit in unserer modernen Welt mehr ausgeführt werden kann, sollte mit etwas Nachdenken eindeutig sein, doch für einige war das Pflichtgefühl, trotz jeglicher Sinnlosigkeit an der Arbeitsstätte erscheinen zu müssen, heute Morgen einfach noch stärker. Dass der alltägliche Beruf nicht mehr ausgeübt werden kann, holt zahlreiche Bürger aus dem Trott ihres Hamsterrad-Lebens und rüttelt sie ob der Unterbrechung ihrer ach so selbstverständlich erscheinenden Gewohnheiten wach. Viele andere hingegen können sich sowieso nicht mehr von zu Hause wegbewegen, da ihnen kein Auto zur Verfügung steht, Busse und Bahnen nicht verkehren, Taxen entweder ausgebucht oder die Fahrer lieber bei ihren Familien zu Hause und die angestrebten Strecken für Fahrräder zu weit und das Wetter zu kalt sind. Somit finden sich die Leute vermehrt in einer Situation wieder, in der sie nur an Orte gelangen können, die sich in einem realistischen Rahmen zu Fuss erreichen lassen. Womit sich für all jene ein bedeutender Nachteil bemerkbar macht, die körperlich nicht ausreichend trainiert sind, um diesen Bedingungen gerecht zu werden. Daher heisst es für die meisten Betroffenen: zu Hause bleiben, sich irgendwie warmhalten und abwarten mangels besserer Pläne. Nach und nach offenbart sich die ganze Situation nicht nur als aussergewöhnlich, unangenehm und anstrengend, sondern auch als bedrohlich.

Tag 3 - Die Ruhe vor dem Sturm

Am nächsten Morgen hat sich immer noch nichts getan. Das Frieren stellt für alle mittlerweile eine Dauerbelastung dar. Ebenso das Unbehagen ob der mangelhaften persönlichen Hygiene; die meisten sind schon seit vorgestern, bis auf das Zähneputzen, mehr oder weniger ungewaschen. Die Stimmung macht den Menschen zunehmend ernsthaft zu schaffen: Die Komponente der psychischen Belastung rückt in den Vordergrund. Kaum jemand ist an die Stille gewöhnt, da sonst immer entweder der Fernseher, das Radio, eine Spielekonsole oder ähnliches läuft, während das Handy sowieso treuer Begleiter ist. Ein beengendes Gefühl der Isolation tritt auf. Es besteht ja nicht mal die Möglichkeit, jemanden anzurufen, selbst wenn das Handy geladen wäre. Die wenigsten Menschen befinden sich in dieser Phase auf der Strasse und auch so manch anklopfendem Nachbarn wird die Tür mittlerweile, wenn überhaupt, nur noch zögerlich geöffnet. Eine bedrohlich anmutende, fast der Ruhe vor dem Sturm gleichende Stille hat sich breitgemacht. Man hat das Gefühl, jederzeit beobachtet zu werden. Menschen, die notgedrungen die Wohnung verlassen müssen oder wollen, machen zumeist einen sehr verängstigten Eindruck. Hin und wieder lassen sich physische Übergriffe beobachten. Die meisten Menschen machen sich keinen Begriff davon, wie schnell eine Gesellschaft, die ihre Ordnung auf die permanente Verfügbarkeit von Elektrizität gründet, in die Barbarei abgleitet, wenn diese Versorgung ausbleibt.

Ungewissheit

Noch patrouillieren regelmässig hoffnungslos überforderte Polizeibeamte in ihren Wagen die Strassen und fordern mit roboterähnlichen Aufrufen die Bevölkerung dazu auf, die Wohnungen nicht grundlos zu verlassen und den im Laufe des Tages folgenden Lautsprecher- oder Radiodurchsagen Folge zu leisten. Wer es noch zustande bringt, ein Radio in Betrieb zu nehmen, den erreichen kaum brauchbare Neuigkeiten. Es sind lediglich schwammige Informationen zu vernehmen, dass es angesichts der Verzögerungen in der Wiederherstellung der überregionalen Versorgung weiterhin Ruhe zu bewahren gilt, man vorsichtshalber sparsam mit den Lebensmittelvorräten sein und das Heim nicht unnötigerweise verlassen sollte und dass es wichtig sei, sich regelmässig per Radio auf den aktuellen Stand bringen zu lassen. Selbst über ein geladenes Handy lassen sich keine Internetseiten aufrufen oder andere Möglichkeiten der alternativen Informationsbeschaffung anzapfen, da die heimischen WLAN-Router selbstverständlich funktionsunfähig sind und das Mobilfunknetz ebenfalls.

Es wird unangenehm auf den Strassen

Wer nicht in unmittelbarer Nähe eines Supermarktes lebt oder selbst beteiligt war, hat es bisher vielleicht noch nicht mitbekommen, doch zahlreiche Plünderungen gab es schon in der Nacht von gestern auf heute. Mittlerweile sind die dortigen Lebensmittelvorräte fast vollständig aus den Regalen geraubt; selbst wenn man jetzt noch sein Leben riskieren und die Läden aufsuchen würde, wäre praktisch nichts Brauchbares mehr aufzutreiben. Mitarbeiter trifft man in den Supermärkten bereits seit Tag 2 nicht mehr an. Der Einbruch der Dunkelheit lässt die Kulisse noch weitaus dystopischer werden. Mittlerweile wechseln sich Sirenen und Blaulicht, Knallgeräusche, rennende und rufende, teils schreiende Menschen und kleine oder grössere Brände an allen Ecken ab - wer unter diesen Bedingungen nicht aus Überlebensgründen einen Fuss vor die Tür setzen muss, versucht sich drinnen am Leben und bei Sinnen zu halten. Doch auch vor Wohnungseinbrüchen inklusive gewalttätiger Konfrontationen mit den Bewohnern machen einige auf der Suche nach Essen und Trinken keinen Halt mehr. Auf die nachbarschaftliche Hilfe anderer kann jetzt kaum noch jemand zählen.


Aus dem Artikel «Szenario: Was Deutschland bei einem tagelangen landesweiten Blackout erwartet» aus der Ausgabe 47: Energie(w)ende

Fortsetzungen des Szenarios werden hier zu finden seinBlog